p18
„MAN MUSS ÜBER SICH SELBST LACHEN KÖNNEN“
Die Bratschistin Monika Henschel über Geschwisterstreit, künstlerische Visionen und eine Ehe zu viert.
Frau Henschel, reden wir über Familie. Man
sagt ja, ein Streichquartett sei eine Ehe zu viert.
Demnach kann das Henschel Quartett bald Silberne
Hochzeit feiern: 1994 wurde es gegründet.
Oh ja, und unsere „Ehe zu viert“ hält sogar deutlich länger
als seit unserem offiziellen Gründungsdatum. 1994
haben wir entschieden, dass wir vom Streichquartett
als Beruf leben wollen. Aber natürlich haben wir davor
schon viele Jahre gemeinsam musiziert.
Sie bilden mit Ihrem Bruder Christoph an der Violine
und dem Cellisten Mathias Beyer-Karlshoj den harten
Kern des Quartetts. Kann man beim Henschel Quartett
von einem Familienunternehmen sprechen?
Ich würde das so sehen, ja. Man verbringt in vielen
Berufen letztlich mehr Zeit mit den Kollegen als mit der
eigenen Familie, aber bei einem Streichquartett ist es
schon extrem. Wenn man über Jahrzehnte so intensiv
zusammenarbeitet, sich durch gemeinsame Erlebnisse
und Krisen entwickelt, wächst man eng zusammen. Die
Unterschiede zwischen familiären und freundschaftlich-
kollegialen Beziehungen verwischen irgendwann.
Enge Beziehungen haben eine eigene Dynamik und können
die Arbeit auch erschweren. Gehen deshalb viele
Streichquartette nach wenigen Jahren auseinander?
Das liegt weniger an der Psychodynamik der Teams
als daran, dass man in Deutschland in dieser sogenannten
Königsklasse in einem fast gänzlich strukturfreien
Raum arbeitet. Der wirtschaftliche Druck und die
Unsicherheit sind immens.
Das Henschel Quartett hat eine ungeheure musikalische
Bandbreite: Wie legen Sie fest, was an einem
Konzertabend gespielt wird oder welchen Schwerpunkt
Sie für ein Tourneejahr setzen?
Im Musik-Management fragt man oft als Erstes: Was
ist Ihr Profil? Der Unique Selling Point, um mit der
Fachsprache der Marketingstrategen zu sprechen. Insofern
mussten auch wir uns einen Schwerpunkt geben,
und der ist tatsächlich im Bereich der Wiener Klassik.
Aber: Wir machen auch alles andere mit genauso viel
Herzblut und Konzentration.
Wie groß ist Ihr Repertoire insgesamt?
Das sind bisher rund 300 Werke. Wichtig ist übrigens
auch, dass wir uns als die vier Solomusiker, die
wir ja außerdem sind, in unserem gemeinsamen Tun
wiederfinden. Da ist es nach Jahrzehnten täglicher
gemeinsamer Arbeit nicht von Nachteil, dass sich
inzwischen gebündelte Quartettarbeitsphasen und
individuelle Freiräume abwechseln. Wir unterrichten
beispielsweise alle, aber an unterschiedlichen Orten.
Inspiration von außen ist wichtig.
Manche Musiker beschreiben die Beziehung zu ihrem
Instrument wie die Beziehung zu einem Menschen.
Wie ist das bei Ihnen?
So weit würde ich nicht gehen. Obwohl meine Bratsche
vor vielen Jahren in die Henschel-Familie gekommen
ist und aus der Werkstatt von Gasparo da Salò stammt,
den man als „Stradivari der Bratschen“ bezeichnen
könnte. Sie ist unglaubliche 400 Jahre alt.
Sie kommen aus einer Musiker-Familie, wahrscheinlich
haben Sie sehr jung begonnen?
Mein Vater war Solobratscher im Radiosinfonie-Orchester
Stuttgart. Natürlich wurden wir als Kinder
mit der Musik vertraut gemacht. Unsere Eltern gingen
da sehr klug und reflektiert vor. Als sich der erste
Versuch mit sechs Jahren als zu früh herausstellte,
haben sie es nochmal probiert, als wir sieben waren.
Heute werden Kinder oft schon mit drei oder vier an
ein Instrument herangeführt. Das kann im Einzelfall
funktionieren, ist meiner Erfahrung nach aber meistens
kontraproduktiv.
Viele beklagen, dass Kinder gar nicht mehr musikalisch
gebildet werden. Sei es, weil der Schulunterricht
dürftig ist oder ganz ausfällt, sei es, weil städtische
Musikschulen schließen.
Ich bin ein positiv denkender Mensch und sehe, dass
das Angebot für Kinder heute viel reicher ist als vor
Jahrzehnten. Kinder-Konzerte, Kinder-Opern: Das alles
gab es in meiner Kindheit nicht. Ich hatte an der Schule
Musik im zweiwöchentlichen Wechsel mit Sport! Dass
Klassen heute Ausflüge in Konzerthäuser machen oder
Musiker an Schulen kommen, ist doch phantastisch.
Sie möchten gemeinsam mit einem Team der LMU
München eine Forschungs-Initiative zum Thema
Resilienz ins Leben rufen. Worum geht es da?
Die Frage lautet: „Was braucht es, um psychisch gut
aufgestellt zu sein in einem Musikerleben?“ Egal, ob als
freier Musiker oder als Mitglied in einem Orchester
oder Ensemble. Die Arbeitsmarktlage hat sich, wie in
vielen anderen Bereichen auch, extrem gewandelt. Alles
ist unsicherer geworden, härter für den Einzelnen.
Eine „Stelle fürs Leben“ wird auch immer seltener.
Die „Stelle fürs Leben“ gibt es wohl nur noch für
Beamte.
Das stimmt, und nach wie vor gibt es beamtete Musiker
in den Tarif-Orchestern und an den Musikhochschulen.
Musiker leben aber in einer sehr speziellen
Welt. Sie sind etwas Besonderes, in der Familie, auch
später im Studium. Das individuelle kreative Potenzial
steht im Zentrum. Wählen Sie dann den Weg des
Berufsmusikers, kommt irgendwann der harte Bruch:
Im Orchester beispielsweise entscheiden andere, der
Dirigent und der Orchesterdirektor, wie man was in
welcher Besetzung und an welchem Ort spielt. Das ist
eine Beschneidung des künstlerischen Potenzials, das
empfinden nicht wenige Musiker als Angriff auf die
Persönlichkeit. Damit und mit anderen Rückschlägen
muss man umgehen. Man sollte nie verlernen, über
sich selbst lachen zu können.
Und diese Fähigkeit kann man erlernen?
Natürlich gibt es Menschen, die von Haus aus resilienter sind als andere. Trotzdem
kann man üben, mit Rückschlägen besser zurechtzukommen, zum Beispiel durch
Verhaltenstraining. Ich habe gelesen, dass 40 Prozent der Persönlichkeit prägbar
und damit auch veränderbar sind.
Nochmal zurück zur Familie: Hilft es oder stört es eher, wenn die Mitglieder eines
Arbeitsteams miteinander verwandt sind?
Vor 20 Jahren hätte ich sofort geantwortet: Es hilft! Inzwischen sehe ich es differenzierter.
Ein Vorteil ist, dass man unter Geschwistern einen Streit schneller ad
acta legen kann, weil man das Miteinanderstreiten von Kindesbeinen an gewohnt
ist. Der Nachteil: Man rutscht schnell in alte Muster. Nach dem Motto: „Das war
schon früher immer dein Problem!“ Die Grenzen zwischen einer künstlerischen
Auseinandersetzung und einem persönlichen Gefecht sind da überaus fließend.
Man muss eine künstlerische Vision teilen und lebendig halten. Dann kann ein
Klangkörper zu einer eigenen Persönlichkeit heranreifen. Ich glaube, das ist dem
Henschel Quartett gelungen.
MONIKA HENSCHELS ENGAGEMENT FÜR SOS-KINDERDORF
Seit Monika Henschel denken kann,
gehörten SOS-Kinderdorf-Patenkinder
zu ihrer Familie. Das haben
sie und ihr Mann weitergeführt.
Ihr erstes Patenkind Tseyang aus
Tibet, die mit ihrer Großmutter zu
Fuß über den Himalaya bis ins
indische SOS-Kinderdorf Dharamsala
gelaufen war, ist inzwischen
erwachsen und steht auf eigenen
Beinen. Jetzt unterstützen sie ihr
Patenkind Joshi, der im indischen
Kinderdorf Bawana lebt. Auch
für ihre eigenen Kinder gehören
die Patenkinder zur Familie. Ihre
Fotos hängen in der Küche und alle
freuen sich über Nachrichten aus
Indien.
Das Henschel Quartett spendet seit
der Gründung 1994 ein Prozent
aller Einkünfte an das SOS-Kinderdorf-
Projekt „Nueva Vida“ in Bogotá/
Kolumbien. Seit 2006 engagiert
sich das Henschel Quartett auch
als Botschafter für SOS-Kinderdorf und
spielt Benefizkonzerte.
SOS-Kinderdorf e.V. Magazin 01/2017, Von Maximilian Geuter